Offene Sprechstunden: Bunte Vielfalt und wahnsinnig viel Arbeit

6. März 2024

 

Mehr als jeder vierte Einwohner im baden-württembergischen Esslingen hat Migrationshintergrund. Martina Denzinger ist hier seit ihrer Ausbildung MFA in einer hausärztlichen-internistischen Praxis in Vollzeit tätig, kennt alle praktischen Herausforderungen und ist abends nicht selten „richtig platt“. Trotzdem möchte die Praxis-, Personal- und Abrechnungsmanagerin bald ein Hochschulstudium aufnehmen.

Einen Teil ihrer Arbeit darf Martina Denzinger im Wechsel mit ihrer Kollegin im Homeoffice erledigen. An einem solchen Tag hat sich MEDI mit ihr zu einem Gespräch verabredet. „In der Praxis können wir sonst kaum einen Satz zu Ende sprechen“, lacht die 53-Jährige.

Stetiges Praxiswachstum

1987 begann Martina Denzinger ihre Ausbildung in der Praxis, in der sie heute noch arbeitet. Die hausärztliche-internistische Praxis mit Schwerpunkt Diabetologie und Hausarztzentrierter Versorgung ist stetig gewachsen. Waren vor 37 Jahren zwei Ärzte tätig, besteht das Team heute aus 28 Personen, darunter sechs Gesellschafter, eine angestellte Ärztin, ein Weiterbildungsassistent, zwei Diabetes-Beratende und zwei Fachkräfte für Wundmanagement. Auch Martina Denzinger hat sich permanent weiterentwickelt: Sie ist VERAH, NäPa, Praxis- und Personalmanagerin und managt die Abrechnung. Und sie kümmert sich darum, dass die EDV läuft. „Zwischendurch habe ich zwei Kinder bekommen“, erwähnt sie schmunzelnd in einem Nebensatz. Nicht mehr zu arbeiten, kam für sie nie in Frage.

Schon immer offene Sprechstunden

„Es ist wahnsinnig viel Arbeit“, sagt sie. Keineswegs klagend, eher beschreibend. Die Region ist durch einen hohen Migrationsanteil charakterisiert. „Schon immer“ werden an Martina Denzingers Arbeitsstelle offene Sprechstunden praktiziert. Das bedeutet einen täglichen Durchlauf von 300 bis 400 Patientinnen und Patienten. Bei Grippewellen auch mehr. „Manchmal haben wir 70 Blutabnahmen“, sagt die Praxismanagerin, die „voll mit Administration ausgelastet“ ist. Im Wechsel mit einer Kollegin darf sie tageweise aus dem Homeoffice arbeiten. Im Krankheitsfall springt sie ein, wo es „brennt“. Nur mittwochs nachmittags ist die Praxis geschlossen. „Die Patienten wissen, dass sie jederzeit vorbeikommen können, auch wenn sie mitunter Wartezeiten von einer Stunde bis zwei Stunden in Kauf nehmen müssen“, berichtet die Praxismanagerin. Dass immer mehr niedergelassene Praxen in der Umgebung ohne Nachfolge schließen, macht die Lage nicht einfacher.

Google-Übersetzer kann helfen

„Ganz bunt“ beschreibt Martina Denzinger das Praxisklientel. In der Nähe befinden sich die Daimler-Werke, in denen Menschen aus zahlreichen Ländern arbeiten. Im Praxisalltag stellt diese Situation das Team vor immer neue Herausforderungen, nicht nur sprachlich. „Die Kolleginnen sind sehr kreativ“, lobt Martina Denzinger. Vier MFA haben Türkisch als Muttersprache, eine Ärztin und ein Azubi sprechen rumänisch, eine MFA italienisch, ein Azubi albanisch und eine Mitarbeiterin sogar eritreisch. Oft wird der Google-Übersetzer auf dem Handy bemüht. „Das ist natürlich zeitaufwändig“, sagt die Praxismanagerin. „Manchmal bildet sich an der Anmeldung mit drei Arbeitsplätzen eine Schlange bis ins Treppenhaus. Trotzdem schicken wir nur sehr selten Fälle weg, wenn sie gar nichts verstehen und ohne Dolmetscher erscheinen.“

In Flüchtlingskreisen wird die Praxisadresse als Tipp weitergegeben. Das kann durchaus als Kompliment für einen menschenwürdigen, respektvollen Umgang verstanden werden. Dabei hat Martina Denzinger und ihr Team einiges dazugelernt. Ein Beispiel: „Nach der Flüchtlingswelle 2015 verhielten sich viele junge Männer ‚komisch‘ – weil wir Frauen sind.“ Geholfen haben pragmatisches Handeln und klare Ansagen wie: „Anfassen beim Impfen ist normal bei uns.“ Auch dass Pünktlichkeit in anderen Kulturen anders bewertet zu sein scheint und das Schmerzempfinden anders ist, steht auf der Erfahrungsliste. Aber: „An ein Riesendrama kann ich mich nicht erinnern.“

Personalmangel in der Praxis

Das liegt bestimmt auch daran, dass Martina Denzinger versucht, „nicht zu streng zu erscheinen.“ Sie sagt: „Kommunikation macht mir sehr viel Spaß.“ Dadurch lerne sie viele verschiedene Menschen kennen. Mit vielen der langjährigen Patientinnen und Patienten gehe es familiär zu: „Wir sprechen auch mal über den Urlaub.“ Trotzdem gibt sie zu: „Wir sind am Limit. Manchmal sind wir den ganzen Tag am Rennen. Wenn wir abends heimkommen, sind wir platt.“ Personalprobleme hat auch die Esslinger Praxis: „Es gehen kaum Bewerbungen ein.“ Wer Terminsprechstunden anbietet, habe natürlich mehr Ruhe. Wie angenehm das ist, weiß sie zu schätzen, wenn sie selbst einmal Patientin ist. Als persönlichen Tipp zum Stressabbau hat Martina Denzinger „nichts Konkretes“. Im Sommer liest sie gern ein Buch im Garten und lässt auch mal den Haushalt liegen. Ansonsten liebt sie Sonne und treibt ab und zu Sport.

Sandwichstellung zwischen Chefs und MFA

Als Praxismanagerin ist Martina Denzinger in einer Sandwichstellung zwischen Chefs und MFA. Sie muss vermitteln. „Bei Krankheitsausfällen müssen die, die den Laden am Laufen halten, besonders wertgeschätzt werden“, nennt sie ein Beispiel. Sie selbst fühlt sich leistungsgerecht vergütet und ist zufrieden. In Qualitätszirkeln zur Hausarztzentrierten Versorgung (HZV), die in ganz Baden-Württemberg angeboten werden, hört sie, wo es in anderen niedergelassenen Praxen hakt, aber auch was anderswo gut läuft. „Man muss an die Arbeitsbedingungen heran“, ist sie überzeugt. „Einige Chefs müssen ihr Führungsverhalten ändern.“ Als Referentin für den Hausärzteverband erklärt sie Ärztinnen und Ärzten sowie MFA Grundlagen und Abrechnung in der Hausarztzentrierten Versorgung. Auch dass darüber in Berufsschulen nicht gesprochen wird, würde sie gern ändern und angehenden Medizinischen Fachangestellten Wissen dazu vermitteln.

„Besser, wenn man sich kennt“

Die Zusammenarbeit zwischen Hausarzt- und Facharztpraxen findet Martina Denzinger mitunter „nicht so optimal“: „Bei Terminvereinbarungen kommen wir an Grenzen.“ Sie spricht sich klar für mehr Vernetzung und mehr Verständnis aus. „Jeder wurschtelt vor sich hin. Wir sind Kolleginnen. Manchmal wird vergessen, dass wir uns helfen sollten. Es ist besser, wenn man sich kennt.“ Nach so vielen Jahren im Beruf bezeichnet sich Martina Denzinger als Visionärin. Sie hat Ideen, wie sich die elektronische Kommunikation nachhaltig verbessern und zu mehr Transparenz und Klarheit führen ließe. Auch deshalb hat sie sich für ein Hochschulstudium beworben und plant, Primärmedizinische Versorgung B.sc. zu studieren. Martina Denzinger wird weiterhin wahnsinnig viel Arbeit haben. Aber sie ist jeden Tag neu motiviert.

Dagmar Möbius

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