Seit der Pandemie leben wir alle in einem ständigen Remote-Zustand. Digitale Veranstaltungen sind das neue Normal. Auch die Videosprechstunde ist aus dem Praxisalltag nicht mehr wegzudenken und mittlerweile fester Bestandteil der Selektivverträge. Was viele Vorteile und Nutzen hat, ist aber auch in manchen Bereichen sehr behutsam einzusetzen – wie beispielsweise in der Psychotherapie, weiß Dr. Michael Ruland, Hausarzt, Psychotherapeut und stellvertretender MEDI-Vorstandsvorsitzender.
„In einigen Situationen ist die Therapie per Video oder Telefon sehr wertvoll, gerade bei Patientinnen und Patienten mit Mobilitätsbeeinträchtigungen. Auch in der Anfangsphase der Pandemie war es gut, dass wir darauf zurückgreifen konnten. Es gab ja zu Beginn noch keinerlei Schutzmaßnahmen. Und die Onlinelösung war immerhin besser als gar keine Therapie“, sagt Ruland.
Er hat seine Patientinnen und Patienten in der Pandemie mit einer E-Mail gefragt, ob sie sich lieber eine Videosprechstunde wünschen. Das Ergebnis: Keiner der Befragten bevorzugte die telemedizinische Variante. „Auch wenn meine Patientinnen und Patienten mindestens eine Viertelstunde mit dem Auto zu mir in die Praxis fahren müssen, wünschen sie sich den persönlichen Kontakt“, berichtet Ruland.
Für den Psychotherapeuten ist die physische Präsenz der Patientinnen und Patienten ganz entscheidend für die Qualität der Behandlung: „In der Therapie spielt nicht nur der physische, sondern auch der metaphysische Raum eine wichtige Rolle. Zuhause ist kein neutraler Ort. Der Therapieraum ist ein geschützter und störungsfreier Raum, mit dem die Patientinnen und Patienten den Prozess der Therapie verbinden.“
Therapie bedeutet für den Arzt auch immer bewährte Wege zu verlassen – heraus aus dem häuslichen oder beruflichen Umfeld. „Häufig steckt ja ein jahrelanger Prozess dahinter sich einzugestehen, dass man Unterstützung benötigt, scheinbar nicht mehr funktioniert. „Es geht also auch darum, sich im wörtlichen Sinne auf den Weg zu machen. Der Gang in die Praxis ist immer auch ein Einschwingen in den therapeutischen Prozess“, weiß Ruland.
Dennoch gibt es immer mehr digitale Angebote von Unternehmen und Start-ups für psychotherapeutische Hilfe im Netz. Davon hält der erfahrene Hausarzt und Psychotherapeut wenig. Denn: Dass die Veränderung des Settings auch Einfluss auf die therapeutische Beziehung habe, sei unbestritten. Die Studienlage zu einem Wechsel von der Therapie in Präsenz zur Online-Sitzung ist aktuell allerdings noch dünn.
„Videokonferenzen haben einfach ihre Grenzen. Allein die rein frontale Sichtweise ist bei längeren Sitzungen sehr anstrengend. Man sieht sich auch immer selbst auf dem Bildschirm und ist dadurch abgelenkt. An einem gemeinsamen physischen Ort lässt man auch mal einen Satz einfach im Raum stehen, denkt nach. Auch der ganze non-verbale Bereich fällt auf dem Bildschirm weg. Da sieht man nicht, wenn die Augen einer Patientin oder eines Patienten feucht werden. Die digitale Begegnung bleibt eine künstliche Situation“, resümiert der Psychotherapeut.
Tanja Reiners