„Große Praxen trifft es härter“

11. Mai 2020

MEDI-Chef Dr. Werner Baumgärtner hat seine Hausarztpraxis auf Corona-Sprechstunden umgestellt. Wie seine Kollegen durch die Krise kommen, für wen es eng werden könnte und was sich künftig in den Praxisabläufen ändern muss, verriet er im Interview mit dem Ärztenachrichtendienst (änd). Wir durften das komplette Interview in unserem Blog veröffentlichen.

Herr Dr. Baumgärtner, wie kommen Sie bislang durch die Krise? Was hören Sie von Ihren Mitgliedern?

Im ersten Quartal mussten die Praxen ihren Routinebetrieb herunterfahren. Dazu kam das Problem, dass es nicht genügend Schutzkleidung gab. Was den Umsatz betrifft, sind die meisten Praxen im ersten Quartal wohl noch mit einem blauen Auge davongekommen. Der richtige Einbruch kam dann in Q2. Vor allem Chroniker und die sogenannten Risikopatienten haben Angst, in die Praxen zu gehen.

Die Praxen sind also deutlich leerer?

Ja, 90 Prozent der Praxen sind deutlich leerer. Ich kann es Ihnen aus eigener Erfahrung berichten: Ich habe einen Teil meiner Praxis auf Corona-Sprechstunde umgestellt. Wir haben über die 116 117 auch Abstriche für andere Praxen gemacht – zum Teil in der Tiefgarage. Selbst das fängt die Verluste, die wir im normalen Tagesgeschäft verkraften müssen, nicht auf. Fast das komplette Tagesgeschäft ist weggebrochen. Dazu zählen die DMP, die Vorsorgen oder die Versorgung von chronisch Kranken.

Es gibt allerdings auch Ausnahmen: Ich höre zum Beispiel von Neurologen, die aktuell mehr Schlaganfallpatienten akut sehen, weil sich diese nicht ins Krankenhaus trauen. Bei anderen Facharztgruppen gibt es ähnliche Konstellationen, wo man Erkrankungen, die bisher sofort im Krankenhaus aufschlagen jetzt wieder mehr ambulant sieht.

Wie hoch ist die Arbeitsbelastung angesichts der Doppelbelastung durch reguläre Sprechstunden und Dienste in Abstrichzentren oder Corona-Sprechstunden?

Die Arbeit in der Corona-Praxis ist sehr belastend. Das beginnt damit, das Personal darauf einzustimmen. Denn das Praxisteam hat ja auch Angst, sich zu infizieren. Das zweite Thema ist der richtige Umgang mit der Schutzkleidung. Wir haben versucht, hier während der täglich vier Sprechstunden OP-Bedingungen beim Tragen der Schutzkleidung einzuhalten. Und zusätzlich haben wir den Regelbetrieb ohne persönlichen Kontakt organisiert, also Telefon- und Videosprechstunden. Diese Doppelbelastung ist auf Dauer für das Team schon sehr anstrengend.

Diese Doppelstrukturen führen ja auch zu einem massiven Anstieg der Hygienekosten. Können Sie dies mit Zahlen unterfüttern?

Wir haben für Masken und Schutzkleidung im ersten Quartal etwa 6000 Euro zusätzlich ausgegeben. Davon wird aber ein Großteil von den Kassen als Sprechstundenbedarf übernommen, wofür ich sehr dankbar bin.

Auf welchen Kosten bleiben Sie sitzen?

Auf den Kosten für Desinfektionsmittel und auf höheren Kosten für die Handschuhe und Kleidung unserer Mitarbeiter. Hier müssen wir ja mehr zur Verfügung stellen, da diese öfter gereinigt und gewaschen werden muss. Dazu kommen Ausgaben für Putz- und Reinigungsmittel. Sie brauchen auch mehr Personal. Das summiert sich auf rund 2000 bis 3000 Euro Mehrkosten pro Quartal.

Lässt sich schon abschätzen, wie groß die wirtschaftlichen Einbußen für die Praxen sein werden?

Wir haben Praxen, die haben sicherlich bis zu 80 Prozent Einbußen. Das betrifft vor allem Kolleginnen und Kollegen, die keine Schutzkleidung erhalten haben, die komplett auf Telefon- und Videosprechstunde umstellen mussten, die also gezwungen wurden, ein Minimalprogramm zu fahren.

Dann gibt es Praxen, die wie wir zusätzlich Corona-Sprechstunden anbieten, und die dann gerade so eben an die 90 Prozent Honorar herankommen, die durch den Schutzschirm für die Niedergelassenen abgedeckt sind. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele Praxen gibt, die in Q2 mehr Umsatz gemacht haben als im Vergleichsquartal vor einem Jahr. Deshalb muss es für die Praxen jetzt darum gehen, wieder hochzufahren und den Routinebetrieb anlaufen zu lassen für das dritte Quartal.

Wie beurteilen Sie die Unterstützung der Praxen durch GKV und Politik? Reichen die zugesagten finanziellen Hilfen aus?

Ich kann das aktuell nur für Baden-Württemberg beurteilen. Positiv ist sicher, dass man bestimmte Leistungen auch abrechnen kann, ohne den Patienten gesehen zu haben, also Video- oder Telefonkontakt. Das gilt auch für die AU. Dass der Telefon- oder Videokontakt bezahlt wird, sichert einen gewissen Grundumsatz.

Gut ist auch, dass man im Selektivvertrag die Pauschalen für Corona-Leistungen erhöht hat. Und im Kollektivvertrag werden die Corona-Leistungen zusätzlich zu den 90 Prozent aus dem Schutzschirm bezahlt. Das finde ich eine sehr faire Lösung für die Praxen.

Aber am Ende sind zehn Prozent Verlust zehn Prozent Verlust. Und wir haben ja sehr unterschiedliche Praxen. Für eine Einzelpraxis, die jährlich 150.000 bis 200.000 Euro Gewinn macht, sind zehn Prozent Verlust in einem Quartal zwar auch schlimm. Aber wenn der Kollegen das im nächsten Quartal wieder aufholen kann, lässt sich das noch verkraften.

Anders sieht es bei Praxen mit hohen Personal- und Betriebskosten oder bei MVZ aus. Für solch große Praxen mit hohen Umsätzen bleibt in normalen Jahren ohnehin nur ein Gewinn von fünf bis zehn Prozent hängen. Und wenn Sie dann zehn Prozent Verlust verkraften müssen, stehen Sie am Ende entweder bei null oder Sie schreiben sogar rote Zahlen.

Deshalb hoffe ich, dass wir im dritten Quartal wieder zu einem Normalbetrieb zurückkehren können – wenn auch mit gewissen Einschränkungen.

Welche Voraussetzungen für eine Rückkehr zum Regelbetrieb müssten erfüllt sein?

Sie müssen den Praxisalltag aufteilen: Morgens sehen Sie die Erkältungspatienten und die Akutpatienten in voller Schutzmontur, nachmittags die Chroniker, hier reichen dann Maske und Handschuhe.

Entscheidend ist, dass jeder Patient, der die Praxis betritt, eine Maske trägt. Das senkt das Risiko einer Infektion für das Praxisteam massiv. Außerdem müssen sich die Patienten bei uns als erstes die Hände desinfizieren. Dazu kommt die Einhaltung der Abstandregeln – etwa an der Anmeldung oder in den Wartezimmern. Und Sie müssen die Praxis konsequent über Termine organisieren. Bei uns kommt kein Patient ohne Termin in die Praxis, auch wenn er nur ein Rezept abholt.

Wie verhalten sich die Patienten aktuell? Sind sie noch immer zurückhaltend, was Praxisbesuche angeht?

Ja, deshalb müssen wir unsere Einbestellungssysteme für DMP oder Impfungen wieder aktivieren. Wenn das zwei oder drei Wochen lang gut läuft, können wir die Einbestellungen zu den Vorsorgeuntersuchungen wieder aktivieren.

Wir müssen unsere Abläufe in den Praxen neu organisieren, um trotz Corona alle unsere Patienten wieder betreuen zu können. Es kommen dann nur noch die Hälfte in die Praxen, die anderen müssen wir eben über Telefon- oder Videosprechstunde betreuen, in der Regel die Zweitkontakte.

Viele halten die Krise für eine Art Konjunkturprogramm für die Digitalisierung. Videosprechstunden boomen, Anbieter von Online-Terminvergabetools melden hohe Zuwächse. Ketzerisch gefragt: Warum geht es bei Corona und warum ging es vorher allenfalls schleppend?

Viele Praxen hatten die Anwendungen nicht installiert, weil es keine Nachfrage gab – vor allem ältere Patienten konnten damit nichts anfangen. Corona hat hier zu einem Umdenken geführt. Viele dieser Patienten scheuen jetzt den Gang in die Praxis und nutzen lieber die Online-Tools.

Außerdem werden Telefon- und Videosprechstunden plötzlich anständig bezahlt. Denn wenn Sie wollen, dass neue Tools genutzt werden, müssen Sie diese auch vernünftig bezahlen. Jede Umstellung in die Digitalisierung ist für die Praxen ein Riesenaufwand und der muss bezahlt werden – und zwar ganz anders, als das bisher der Fall ist.

Was wäre denn eine angemessene Honorierung für die Videosprechstunde?

Sie müssen Pauschalen abrechnen können, wie bei einem Echtkontakt, insbesondere die Gesprächsleistungen. Und es muss eine Anschaffungspauschale geben – für die Hardware, die neuen Firewall-Einstellungen, den zusätzlichen Aufwand, die Schulungen und so weiter. Wir haben bei unserer elektronischen Vernetzung in Baden-Württemberg mit dem Hausärzteverband und der AOK jeder Praxis 2.500 Euro für den Einstiegsaufwand bezahlt. Wenn Sie irgendetwas Neues einführen wollen, müssen Sie wenigstens die Installations- und Schulungskosten erst einmal übernehmen.

Sie sind ein bekennender Gegner der Telematikinfrastruktur. Droht das Thema angesichts von Covid-19 aus dem Bewusstsein zu verschwinden? 

Ich empfinde es noch immer als Frechheit, dass man hier Kollegen, die sich weigern, ihre Praxen an diese veraltete Technik anzuschließen, mit einem Honorarabzug bestraft. Das ist inakzeptabel! Meine Tätigkeit in der Krise mit der Corona-Sprechstunde wird jetzt mit einem Honorarabzug von 2,5 Prozent bestraft. Das kann nicht sein. Deshalb wäre mein Wunsch, dass diese Sanktion in der aktuellen Krise ausgesetzt wird und dass man sich dann noch einmal zusammensetzt. Denn es gibt ja außer der TI auch noch andere preisgünstigere Lösungen für die Vernetzung.

Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass der Gesundheitsminister einlenkt?

So wie es bisher gelaufen ist, habe ich wenig Hoffnung. Wir wollen aber mit unserer elektronischen Arztvernetzung, die wir für sicherer halten als die TI, noch einen Anlauf machen in Richtung Gematik und Bundesgesundheitsministerium, ob hier nicht doch eine Ergänzung möglich wäre. Über unsere Schnittstelle ließen sich die Praxen auch deutschlandweit vernetzen. Wir werden auf jeden Fall das Gespräch suchen.

Ich bin kein Digitalisierungsgegner, aber ich bin gegen zentrale Datenspeicherung, wenn es alternative Lösungen gibt. Ich bin ein Gegner der TI, die man uns zwangsweise verordnet hat und die ich für unsicher und veraltet halte.

Marco Münster

 

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