Ein Krückstock als Waffe? Allerdings! Wie man einen Krückstock am besten zur Selbstverteidigung einsetzt, kann man bei Dr. Jan Fitzner, Allgemeinarzt in Wendlingen, lernen. Im Training wird mit Stöcken geschlagen, gestochen und gestoßen. Mehr über ein einzigartiges Training – und über einen Hausarzt, den die Arbeitsbedingungen krank gemacht haben.Fitzner betreibt seit Jahren verschiedene Kampfkünste, auch Stockkampf wie Escrima. Während einer Sportstunde fiel ihm ein, dass Senioren ihren Gehstock ähnlich wie einen Baseballschläger einsetzen könnten, wenn sie belästigt werden. Ein Krückstock als Notwehrwaffe hat Vorteile. Er ist unauffällig und alltagstauglich, man darf ihn legal überallhin mitnehmen, in Konzerte ebenso wie auf Flugreisen.Gedacht – getan. Fitzner lernte, so viel er konnte, über Stockkampf, theoretisch wie praktisch. Obwohl er sich auch schon zu den Senioren zählen könnte, besucht er Stockkampfseminare, in denen er oft der älteste Teilnehmer ist. So hat er mit der Zeit philippinischen Stockkampftechniken, amerikanischem Cane-Fu, japanischem Hanbojutsu, irischem Stockkampf, englischem Bartitsu und europäischem Fechten seniorengeeignete Elemente entnommen und kombiniert. Dann bot er die ersten Kurse für Senioren an, um mit ihnen Cane-Fu zu üben, die Selbstverteidigung per Krückstock.Selbstverteidigung mit dem KrückstockDer Name „Cane-Fu“ ist eine Zusammensetzung aus dem chinesischen Begriff „Kung-Fu“ und dem englischen Wort für Gehstock „cane“. Natürlich werden unsportliche Senioren sich durch ein paar Stunden Cane-Fu nicht in muskelbepackte Kampfkünstler verwandeln. Aber sie können bei dem MEDI-Arzt lernen, dass Bewegung auch im Alter möglich ist, dass Training Spaß machen kann und vernünftig ist. Es stärkt das Selbstbewusstsein, wenn man sich nicht vor jedem Rüpel fürchtet.Wobei der Allgemeinmediziner es durchaus sinnvoll findet, Konfrontationen aus dem Weg zu gehen, wenn es möglich ist. „Man kann mit Cane-Fu nichts gegen einen ausgebildeten Nahkämpfer ausrichten, der ein Messer bei sich hat“, gibt er offen zu. Anders ist es bei dem „Lümmel“, der einer alten Frau die Handtasche entreißen oder einen alten Mann demütigen will. Gegen ihn kann man den Krückstock oder Regenschirm erfolgreich einsetzen. „Solche Lümmel wollen nicht kämpfen“, vermutet er, „sie laufen weg, wenn sie auf Gegenwehr stoßen.“ Seine Kursteilnehmer lernen, auf Stöcke und Schlagpolster zu schlagen. Wenn man dabei auch die Rückenmuskeln einsetzt, steigt die Wucht der Schläge. Fitzner trainiert die Haltemuskulatur des Körpers und die Koordination – beides Basiselemente von Übungen zur Sturzprophylaxe.Seniorengerechtes TrainingAls Arzt legt er Wert darauf, übliche Kampfsporttechniken seniorengerecht zu modifizieren. Springen, Treten, Werfen – das ist im Alter unrealistisch. Er verzichtet in seinen Kursen auf Hebel- und die Wurftechniken, weil sich Menschen mit Arthrose und Osteoporose nicht dauernd auf den Boden werfen können und weil Hebeltechniken zu trainingsintensiv sind. „Das würde viel zu lange dauern“, sagt Fitzner. Das Cane-Fu-Repertoire besteht im Wesentlichen aus kurzen Schlag- und Stoßsequenzen, die keine längere Kondition verlangen.Auch mental wird trainiert, es entstehen typische Diskussionen. Darf ich mich als Pazifist eigentlich wehren? Muss ich nicht meinem Ideal von Mitmenschlichkeit oder Nächstenliebe folgen? Wann ist Notwehr legal? Der Arzt weiß, dass man im Ernstfall keine Zeit hat, diese Fragen zu durchdenken. Man muss sich vorher entscheiden, ob man es richtig findet, dem Gegner eine Platzwunde am Kopf oder ein blaues Auge zu verpassen.Die Grenzen der BelastbarkeitAls Kampfkünstler kann Fitzner sich zur Wehr setzen. Als Arzt ist es ihm nicht wirklich gelungen, für seine eigene Unversehrtheit zu sorgen. Er musste in den letzten Jahren erleben, wie er beruflich an die Grenzen seiner Belastbarkeit gestoßen ist. Gemeinsam mit seiner Frau Gabriele hat er in Wendlingen 33 Jahre lang eine allgemeinärztliche Praxis geführt. Er war engagiert, ging seinen Beruf mit Begeisterung an und hatte seine Ideale.Fitzner wollte sich immer genügend Zeit für seine Patienten nehmen. Er weigerte sich, unter betriebswirtschaftlich sinnvollen Kriterien einen Fall nach dem anderen zu „erledigen“, sondern bemühte sich um eine sorgfältige und geduldige Beratung. Mit den Jahren wurde der bürokratische Aufwand immer größer und die ökonomisch notwendige Auslastung der Praxis erhöhte den Stress weiter.Trotzdem versuchte Fitzner, sich Zeit für die nötigen Gespräche und Erklärungen zu nehmen – für ihn eine Selbstverständlichkeit und menschlich wichtig. Lange Arbeitstage ohne Pausen, an Feiertagen die Lektüre von bürokratischen Neuerungen, dazu hohe Ansprüche an die eigene Person – das blieb nicht ohne Folgen. Irgendwann konnte er angesichts der vielfältigen Probleme in der Praxis nicht mehr abschalten.Es gelang ihm nicht mehr, die Freizeit zu genießen, weil er Abend für Abend in Gedankenschleifen gefangen war: Hatte er alles richtig gemacht und nichts vergessen? Er schlief nicht mehr, war ständig müde und spürte, wie seine Kraftreserven zu Ende gingen. „Die Praxis hat mich krank gemacht“, sagt er neutral und beschreibt, dass ihm die heutigen Anforderungen an die Praxistätigkeit im wahrsten Sinn des Wortes die Lebenskraft geraubt haben. Als er schließlich ausschied, formulierte er es in seiner Abschiedsrede so: „Ich weine meinem Hausarztsein keine einzige Träne nach, es hat mich meinen letzten Nerv gekostet. Die Entwicklung über die Jahre, ja Jahrzehnte, war so negativ, dass ich sofort verstehe, warum es keinen Nachwuchs bei den selbstständig Niedergelassenen mehr gibt.“Das MEDI-MVZ war die RettungDas Ehepaar war glücklich darüber, dass es angestellte Ärztinnen in Teilzeit zur Entlastung fand. Doch es fand sich kein Nachfolger, der die Praxis als selbstständiger Arzt übernehmen wollte. Und das, obwohl die Praxis seit nunmehr 10 Jahren in ganz neuen Räumen ist, einen stabilen Patientenstamm hat und damit auch verlässliche Einkünfte garantiert.„MEDI war die Rettung“, sagt Fitzner. Gemeinsam mit Wolfgang Fink gelang es, die Praxis in ein MVZ nach dem MEDI-Konzept zu verwandeln. Nun ist die bisherige Praxisinhaberin angestellt und das gesamte Team wurde in ein MEDI-MVZ übernommen. Der stockkämpfende ehemalige Chef ist dankbar und erleichtert, dass er „draußen“ ist und dass die Praxis auch in Zukunft für Wendlingen erhalten bleibt.Ruth Auschra