Eine Befragung von 900 MFAs ergab, dass der Stresslevel in der Praxis tatsächlich außerordentlich hoch ist. Unschön, aber wie kommt man am besten damit zurecht? Ein Interview mit dem MEDI-Psychotherapeuten Dr. Matthias Hammer, der sich mit betrieblicher Gesundheitsförderung und Stressbewältigung beschäftigt.
MEDI-Blog: Herr Dr. Hammer, ein bisschen Stress gehört wohl zum Praxisalltag dazu. Wann wird aus dem Stress ein schädlicher Stress?
Hammer: Der Körper gibt uns typische Hinweise, wenn der Stress zu groß wird. Man reagiert zum Beispiel mit Erschöpfung, Schlafstörungen oder Rückenschmerzen. Oder man hat das Gefühl, die Arbeit ist in der Zeit, die zur Verfügung steht, nicht mehr zu bewältigen. Man fühlt sich hilflos und hat ein Gefühl von Kontrollverlust. Die ersten körperlichen Signale werden oft weggedrückt, man möchte das nicht spüren und macht weiter wie bisher. Dann werden die Signale deutlicher. Am Ende von so einem Prozess steht oft der Burnout. Nur wenn wir auf die Signale des Körpers achten, können wir Konsequenzen daraus ziehen und besser für uns sorgen.
MEDI-Blog: Wie könnte das aussehen?
Hammer: Um Unterstützung zu bekommen, müssen Kolleginnen und Praxisleitung Bescheid wissen. Man muss also darüber sprechen, wie es einem geht. In konkreten Fällen kann man auch mal Nein sagen, wenn die Anforderungen zu hoch sind. Wenn man das nicht tut, gerät man leicht in eine Situation, in der man einen Tunnelblick bekommt und immer mehr arbeitet.
MEDI-Blog: Das ist sicher richtig, aber eine überlastete MFA kann die Patienten doch nicht nach Hause schicken.
Hammer: Wenn die hohe Patientenzahl unveränderlich ist, kann man dagegen nichts tun und muss das so akzeptieren. Aber ich habe häufig erlebt, dass man im Team Arbeitsabläufe verändern kann, zum Beispiel räumliche Veränderungen. Oft haben die Mitarbeiter vor Ort längst Ideen, um eine stressige Situation zu verbessern. Es ist dann allerdings wieder eine Frage der Teamkultur, ob Wert auf die Ideen und Erfahrungen des Teams gelegt wird. Man fühlt sich auf jeden Fall besser, wenn man eine stressige Situation verändern kann.
MEDI-Blog: Unterbrechungen machen Stress. Man hat gerade etwas angefangen, da erscheint zum Beispiel der Chef und braucht dringend Unterstützung. Wie würden Sie damit umgehen?
Hammer: Zuerst würde ich dazu raten, das zu akzeptieren. Unterbrechungen sind tatsächlich anstrengend, aber in Notfällen gehören zum Beispiel bestimmte Anweisungen zur Arbeit dazu. Dann würde ich danach fragen, welche Unterbrechungen notwendig sind und welche sich verhindern lassen. Vielleicht kann man im Team besprechen, wie man die Arbeit anders organisieren und kanalisieren kann? Ich habe erlebt, dass es eine Lösung sein kann, wenn man die Arbeit anders aufteilt. Eine MFA sitzt am Empfang und hat den stressigen Patientenkontakt mit den Unterbrechungen, die Kollegin im Hintergrund arbeitet räumlich getrennt in Ruhe. Ein Wechsel zwischen beiden Arbeitsplätzen entlastet!
MEDI-Blog: Ein anderer Punkt ist das Arbeitsklima. Es kann sowohl für Stress sorgen als auch Stress auffangen helfen. Was kann eine MFA tun, um das Arbeitsklima zu verbessern?
Hammer: Am Arbeitsklima ist das gesamte Team beteiligt. Das hat sehr viel mit Organisation und Arbeitsabläufen zu tun – und mit einer hohen Wertschätzung. Da sind natürlich auch die Vorgesetzten gefragt, die Wertschätzung ausdrücken. Ein gutes Team entwickelt mit der Zeit ein Wir-Gefühl. Das heißt, man ist nicht nur Arbeitskraft, sondern wird als Mensch wahrgenommen und akzeptiert. Man kennt sich, spricht auch mal über Privates, trinkt einen Kaffee oder macht einen Ausflug. Dieses Wir-Gefühl wirkt sich auf das Arbeitsklima sehr positiv aus.
MEDI-Blog: Und wenn die Wertschätzung nicht da ist?
Hammer: Schwierig. Empfehlenswert wäre es, wenn Ärzte neben ihrer fachlichen Ausbildung auch Fortbildungen machen, um ihre Führungsaufgaben gut zu erfüllen. Als Beschäftigte kann man dem Arbeitgeber durchaus mal die Rückmeldung geben, dass ein bestimmter Umgang kränkend ist oder die Arbeit nicht fördert.
MEDI-Blog: Würden Sie so eine Äußerung dem Chef gegenüber unter vier Augen machen oder bei einer Teamsitzung?
Hammer: Unbedingt unter vier Augen! Ich würde versuchen, das Thema in einem persönlichen Gespräch so auszudrücken, dass der Chef es auch hören kann. Man will damit ja anbahnen, dass sich etwas positiv verändert und die Äußerung nicht von Nachteil ist.
MEDI-Blog: Hoher Zeitdruck ist auch so ein Thema. Wie schafft man es, trotzdem Ruhe zu bewahren?
Hammer: Dazu fällt mir ein Satz ein: ‘Wenn die ganze Herde rennt, fällt es dem einzelnen Schaf schwer, ruhig zu gehen.’ Zeitdruck ist ansteckend! Auf der institutionellen Ebene kann man zum Beispiel danach schauen, wie die Pausenzeiten geregelt sind. Gibt es einen Pausenraum, wo man seine Ruhe hat? Oder kann man in der Pause einen kleinen Spaziergang machen? Das ist Sache der Praxisleitung. Individuell kann man danach schauen, wie man für sich sorgt und Prioritäten setzen. Bitte kein Multitasking! Das ist sehr anstrengend und sehr fehleranfällig. Besser ist es, sich ganz auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Danach sollte man wieder umschalten und dem Geist Entspannung gewähren. Dazu kann man sich eine Kultur von Anspannung und Entspannung zulegen. Zeitdruck geht bei vielen Menschen heute ja auch in der Freizeit weiter. Manche Reize muss man vielleicht bewusst reduzieren, Handys zum Beispiel am Abend einfach mal ausschalten.
MEDI-Blog: Das gilt dann wahrscheinlich auch für die Menschen, die abends noch über der Frage grübeln, ob sie in der Praxis alles richtig gemacht und nichts vergessen haben.
Hammer: Wenn ich den ganzen Tag im Hamsterrad war, nehme ich die Themen mit in die Nacht. Man kann sich zum Gegensteuern angewöhnen, berufliche Themen gezielt am Arbeitsplatz zu lassen. Wichtig ist dazu ein bewusster Abschied vom Arbeitsplatz – ohne Hetze. In der Freizeit hilft es manchmal, eine Entspannungstechnik zu erlernen. Andere Menschen gehen Hobbys nach, machen Sport oder haben Kontakt mit Freunden. Da gibt es viele Möglichkeiten. Wichtig ist, dass wir aus unserem täglichen Hamsterrad herauskommen.
Interessant finde ich übrigens auch das Ergebnis verschiedener Burnoutstudien: Eine gewisse Eigenwilligkeit schützt offenbar vor Burnout. Wer Ecken und Kanten hat, gerät seltener in einen Burnout. Gesundheit erhält man sich offenbar, wenn man auf sich, auf seine eigenen Signale achtet. Das wünschen sich übrigens auch viele Arbeitgeber: ein Signal vom Arbeitnehmer, wenn der sich überlastet fühlt. Aktive Selbstsorge – das ist in diesem Zusammenhang für mich ein wichtiges Schlagwort.
Ruth Auschra
Dr. Matthias Hammer studierte Psychologie in Tübingen, Chicago und New York. Nach dem Studium hat er eine Ausbildung in Verhaltenstherapie abgeschlossen und promoviert. Er ist Autor mehrerer Bücher zu psychologischen Fragen. Sein neuester Ratgeber heißt „Liebe das Kind in dir … und entdecke, was dich stark macht“ (Gräfe und Unzer Verlag 2018). Mehr über den Psychotherapeuten auf www.matthiashammer.de.