Berlin (pag) – Dass medizinischer Fortschritt allen Menschen in Deutschland zugutekommen kann, ist eine Illusion. Die Politik müht sich jedoch, diese um jeden Preis aufrechtzuerhalten und sperrt sich gegen die längst überfällige Allokationsdebatte, heißt es bei einem Symposium der Leopoldina.
Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen – aus der Sicht der Diskutanten verschließt sich die Politik den grundlegenden Problemen im deutschen Gesundheitssystem. Mit Blick auf sehr teure neuartige Therapien, Pflegenotstand und andere Investitionsfragen erfordere es politische Entscheidungen, an die sich jedoch niemand herantraue. Prof. Heyo Kroemer, Dekan der Universitätsmedizin Göttingen, hält das für einen Fehler: „Das Grundproblem ist, dass es keinen Konsens gibt, wie die Gesundheitsversorgung der Zukunft aussehen soll“, sagt er. „Wir erhalten die Illusion aufrecht, dass alle alles kriegen.“ Das sei nicht realistisch. Es gelte, sich der dringend nötigen Allokationsdebatte zu stellen. Davon sei Deutschland jedoch weit entfernt. „Entscheidungen setzen einen politischen Willen voraus, der nicht existent ist.“
Als Beispiel nennt Kroemer den Pflegenotstand. Die jüngst erzielte Einigung bei den Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD, in einem Sofortprogramm 8.000 neue Stellen in der Pflege schaffen zu wollen, sei „totaler Unsinn“. So ließe sich der Pflegemangel in keiner Weise beeinflussen. Wesentliche finanzielle und strukturelle Fragen blieben unbeantwortet. „Das sind immer diese kleinen Maßnahmen, die der Bevölkerung suggerieren sollen, dass irgendetwas passiert“, wettert er und gibt zu bedenken, dass in fünf bis sechs Jahren der demografische Wandel einsetze. „Dann gehen die ersten großen Jahrgänge in den Ruhestand – und mit ihnen die ersten großen Jahrgänge der Pflegekräfte.“ Diese zu ersetzen, sei unmöglich. „Mich wundert die Ruhe in diesem Land. Auf uns kommt ein riesen Anspruch zu, aber auf der anderen Seite brauchen wir Leute, die die Party bezahlen und die Dienstleistung erbringen.“ Es mangele an Ideen, wie diese unmittelbar vor der Tür stehende Herausforderung zu meistern sei. „Ich bin nicht für Politik-Bashing, aber man muss sagen, dass vor diesen Grundsatzfragen eine Haltung existiert, die an Verweigerung grenzt.“ (Foto: pag)